Impuls KW 8/2024

 Joseph Ratzinger/ Benedikt  XVI.:

(c) CC0 1.0 - Public Domain (von unsplash.com)
Datum:
Mo. 19. Feb. 2024
Von:
Pfr. Heinz Portz

 „Im Psalm 19,13 steht der ewig bedenkenswerte Satz: „Wer bemerkt seine eigenen Fehler? Sprich mich frei von der Schuld, die mir nicht bewusst ist.“ Das ist nicht alttestamentlicher Objektivismus, sondern tiefste menschliche Weisheit: Das Nicht-mehr-Sehen von Schuld, das Verstummen des Gewissens in so vielen Bereichen ist eine gefährlichere Erkrankung der Seele als die immerhin noch als Schuld erkannte Schuld. Wer nicht mehr bemerkt, dass Töten Sünde ist, ist tiefer gefallen, als wer noch das Schändliche seines Tuns erkennt, weil er von der Wahrheit und von der Bekehrung weiter entfernt ist.

Nicht umsonst erscheint in der Begegnung mit Jesus der Selbstgerechte als der wahrhaft Verlorene. Wenn der Zöllner mit all seinen unbestrittenen Sünden vor Gott gerechter dasteht als der Pharisäer mit all seinen wirklich guten Werken (Lk 18,9–14), so liegt das nicht daran, dass etwa die Sünden des Zöllners keine Sünden wären und die guten Taten des Zöllners keine guten Taten. Es bedeutet nicht, dass das Gute des Menschen vor Gott nicht gut und sein Böses nicht böse oder eben nicht gar so wichtig ist. Der Grund für dieses paradoxe Urteil Gottes zeigt sich genau von unserer Frage her: Der Pharisäer weiß nicht mehr, dass auch er Schuld hat. Er ist mit seinem Gewissen völlig im reinen. Aber dieses Schweigen des Gewissens macht ihn undurchdringlich für Gott und die Menschen, während der Schrei des Gewissens, der den Zöllner umtreibt, ihn der Wahrheit und der Liebe fähig macht. Jesus kann deswegen bei den Sündern wirken, weil sie nicht hinter dem Paravent ihres irrenden Gewissens unzugänglich geworden sind für die Veränderung, die Gott von ihnen – von uns – erwartet. Er kann deswegen bei den „Gerechten“ nicht wirken, weil kein Bedarf für Vergebung und Bekehrung mehr besteht; weil ihr Gewissen sie nicht mehr anklagt, sondern rechtfertigt.“

 

 

Aus:
Joseph Ratzinger,
Gewissen und Wahrheit,
in: Michael Kessler / Wolfhart Pannenberg / Hermann Josef Pottmeyer (Hg.),
Fides quaerens intellectum. Beiträge zur Fundamentaltheologie,
Tübingen 1992, 293–309, hier S. 297